Familien sind komplizierte Gebilde. Sie bestehen aus Lieblingstanten und nervigen Cousins, wundervollen Großmüttern und missgelaunten Großvätern. Sie bestehen aus vielen individuellen Beziehungen, manche positiv, viele neutral und manche vielleicht sogar negativ. Natürlich ist es leicht, den Kontakt zu den Familienmitgliedern zu halten, die man besonders schätzt. Aber was ist mit den Anderen? Den Cousins und Großvätern? Eine Familie ist doch mehr, als nur die Summe der nettesten Beziehungen. Es kann durchaus lohnenswert sein, sich auch mit den Familienmitgliedern auseinanderzusetzen, die, aus welchem Grund auch immer, nicht ganz so nah erscheinen.
Ein erster, einfacher Schritt ist es, sich immer mal zu vergegenwärtigen, dass man eine Familie ist. Nicht nur die Familienmitglieder verändern sich, sondern Familien bekommen auch neue Mitglieder. Die nervige Cousine Anna ist eben nicht mehr 12 Jahre alt, sondern bereits 25 und nun auch schon fünf Jahre mit ihrem „neuen“ Freund Jan zusammen. Haben die Beiden nicht sogar geheiratet letztes Jahr? Irgendwie ist Jan ja auch ein ganz Netter. Auch er gehört jetzt dazu.
Ein Familienportrait ist eine schöne Möglichkeit, eine Familie als Ganzes zu begreifen. Wer kennt nicht das gemeinsame Grübeln über alte Familienbilder: Wer war dies nochmal? Ein ausgewanderter Onkel? Oh da, eine Ex-Freundin, die man doch lieber vergessen wollte! Regelmäßig erneuert, zeigt es nicht nur, wer gerade alles dazugehört. Es dokumentiert auch Veränderungen in der Familie.
Immer mal wieder ein Familienporträt anzufertigen, wäre also eigentlich ganz schön. Aber mal ehrlich: wann kriegt man die ganze Familie schon zusammen, um dieses gemeinsame Bild zu machen? Daher haben wir uns eine besondere Form des Familienporträts einfallen lassen. Es besteht aus einer Anzeigefläche, auf der jedes Familienmitglied seinen eigenen Bereich hat. Zu dem eigentlichen Portrait gehört eine Aufnahmebox. Mit dieser kann man ein Foto von sich machen (ein „Selfie“), das dann auf dem Familienporträt für alle sichtbar erscheint. So hat man nicht nur seinen Platz, sondern kann auch Veränderung zeigen. Der neue Haarschnitt, der selbstgestrickten Schal oder die Augenränder nach einer langen Partynacht: Jede Veränderung gibt einen Einblick in den Alltag des jeweiligen Familienmitglieds. Das bringt mir die liebe Cousine Anna nicht nur etwas näher, sondern legt auch mögliche Gesprächsthemen nahe. Das ist eine wichtige Voraussetzung für das Intensivieren einer brachliegenden Beziehung.
Das Familienporträt besteht aus einer Anzeige, also dem eigentlichen Porträt, und einer Aufnahmebox neben dem Familienportrait. Beides befindet sich an einem festen Ort in verschiedenen Haushalten. Die Box ist mit einer Weitwinkelkamera und einem Aufnahmeknopf für jedes Familienmitglied ausgestattet. So kann man spontan Selfies von sich aufnehmen, die dann auf allen Familienportraits erscheinen.
Wenn man sich ein kleineres Bild genauer anschauen oder einfach mal Abwechslung haben möchte, kann man bei seinem eigenen Familienportrait die Bilder über den „Zufallsknopf“ neu anordnen. Die Anordnung auf den anderen Portraits bleibt davon unberührt. Der Zufall war uns dabei ganz wichtig. So vermeidet man, dass man sich wieder nur den Teil der Familie anzeigen lässt, mit dem man sowieso schon enge Kontakte pflegt.
Wir haben dieses Porträt einer Familie zum Ausprobieren gegeben. Die Nutzung ließ die Familie etwas näher zusammenrücken. Familienmitglieder, die im Alltag nicht ständig präsent sind, wurden so mehr als ein wichtiger Teil der Familie wahrgenommen. Die Möglichkeit, sich so oft zu fotografieren wie man möchte, fördert die Kommunikation und auch das Verständnis untereinander – besonders zwischen den Familienmitgliedern, die nicht regelmäßig miteinander telefonieren. Die Bilder transportieren Nachrichten oder kündigen etwas an, das momentan im Leben eines anderen passiert. So ergaben sich Anknüpfungspunkte für persönliche Telefonate, Gespräche oder Besuche.
Aber wer könnte einen besseren Einblick in die Nutzung des Konzepts geben als „unsere“ Familie? Hier präsentiert eine Teilnehmerin „ihr“ Familienportrait.
Unsere Version des Familienportraits adressiert eine Reihe wichtiger Aspekte:
Gleichberechtigung: Jedes Familienmitglied hat seinen eigenen Passepartout-Ausschnitt. Die Bildausschnitte stehen gleichzeitig und gleichberechtigt nebeneinander. Die Bilder der Familienmitglieder sind in einer zufälligen Reihenfolge angeordnet und können beliebig oft in andere, zufällig generierte Anordnungen gebracht werden. So stehen alle Familienmitglieder gleichermaßen im Fokus, niemand wird vergessen und die Familie als Einheit verstanden.
Aktualität: Drückt ein Familienmitglied seinen Auslöser an der Aufnahmebox, erscheint das neue Bild sofort und gleichzeitig auf allen zugehörigen Familienportraits. Dies zeigt den Wandel und die Lebendigkeit einer Familie. Trotz oder gerade wegen der Alltäglichkeit der Bilder ergeben sich immer neue Geschichten.
Person im Fokus: Dadurch dass das Familienportrait und die Aufnahmebox lokal verortet sind, steht in den Familienportrait-Selfies immer die Person im Mittelpunkt. Im Gegensatz zum „normalen Selfie“ ändert sich der Hintergrund nicht (bzw. selten oder nur geringfügig) und wird dadurch zweitrangig. Gestik, Mimik und der gesamte emotionale Ausdruck der Person rücken in den Mittelpunkt.
Präsenz: Das Familienportrait ist ein eigenständiges Objekt. Es hat keine weiteren Funktionen als die zuvor beschriebenen. Wir gehen davon aus, dass es an einem oft aufgesuchten Platz in der Wohnung hängt. Schließlich will man doch mitbekommen, wenn sich auf dem Portrait etwas tut. Diese Exklusivität der Teilnehmer und Inhalte, verstärkt die Ausdruckskraft. Die Familie steht nicht in Konkurrenz zu anderen Informationen und Inhalten.
Frequenz: Die Präsens eines eigenständigen Objektes an einem festen Ort sowie die Aktualität der Bilder insgesamt sollen dazu beitragen, dass die Frequenz, mit der Bilder gemacht werden, hoch und regelmäßig ist. Dadurch ist das Familienportrait immer aktuell und die Einzelbilder der Familienmitglieder fast schon Statusanzeigen, die über Aktuelles informieren.
Diese grundlegenden Überlegungen sind in unserer Version des Familienportraits in einen komplexen Prototypen geflossen. Wer die Idee des Familienportraits in abgespeckter Form einmal ausprobieren möchte, dem empfehlen wir folgende DIY-Anleitungen: